ESSEN. „Europa ist nichts für Sonntagreden. Es beweist sich im Alltag“, erklärte der langjährige EP-Abgeordnete Bernd Posselt beim Ruhr-Europatag. „Und man kann es nicht ohne Liebe machen!“, schrieb der aus Bayern zugeschaltete Präsident der Paneuropa-Union den Studenten, Ehemaligen und Gästen der Unitas Ruhrania am Sonntag, 9. Mai, ins Stammbuch. Anlass für die Zoom-Konferenz war das bei der Ruhr-Unitas traditionelle jährliche Gedenken an Bbr. Robert Schuman, „Vater Europas“ und erster Präsident des Europäischen Parlaments.
Leidenschaftlicher Europäer
Die an Stelle des inzwischen 14. Europa-Kommerses an der Ruhr geplante Online-Veranstaltung geriet zu einer hervorragenden Alternative, denn sie ermöglichte eine intensive Begegnung mit einem leidenschaftlichen Europäer: Bernd Posselt gründete 1975 die Paneuropa-Jugend Deutschland, war bis 1990 ihr Bundesvorsitzender, ist seit 1986 Mitglied des Vorstandes der Paneuropa-Union Deutschland und seit 1998 ihr Präsident. 20 Jahre lang gehörte er als Abgeordneter dem Europäischen Parlament an, ist seit 2000 Mitglied im Landesvorstand der CSU, kandidierte zuletzt 2019 für ein Mandat bei der Europawahl. Und bis heute dient Posselt ganz seiner Leidenschaft – inzwischen als „ehrenamtlicher EU-Politiker“, der heute noch in Brüssel ein- und ausgeht. Ein außergewöhnliches Phänomen - und doch mehr als verständlich, wie auch sein inspirierender Online-Besuch an der Ruhr deutlich machte.
100 Jahre Einigungsbewegung
Mit seinen Verweisen auf die persönliche Familiengeschichte, Erziehung, landschaftliche und religiöse Prägung verkörpert er einen Politikertypus, der mit Blick auf ein vielgescholtenes „Brüssel der Technokraten“ nur zu schnell und zu oft aus den Augen gerät. Denn es gibt sie noch, die leidenschaftlichen Streiter für die europäische Sache, tief eingewurzelt in den großen Strom der Geschichte und der fast genau 100-jährigen Einigungsbewegung in der Tradition des Paneuropa-Gründers Graf Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi (1894-1972). Unter dem Eindruck der Schrecken des „Europäischen Bürgerkriegs“ 1914-1918 verfasste der aus böhmischem Adel stammende katholische Schriftsteller, Politiker und Weltbürger 1923 gerade mal 28-jährig sein programmatisches und visionäres Werk „Paneuropa“. In „Würdigung seiner Lebensarbeit für ein geeintes Europa“ wurde er 1950 zum ersten Träger des Karlspreises, 1952 gefolgt von Alcide De Gasperi, 1953 von Jean Monnet, 1954 von Konrad Adenauer und 1958 von Bbr. Robert Schuman – Namen, die mit vielen anderen nach dem Zweiten Weltkrieg für einen Traum standen, der ein Trauma zu bewältigen suchte.
Verantwortung aus dem Glauben
Sie waren darin nicht nur erfolgreich, wie Posselt deutlich machte, sondern auch durch ganz ähnliche Prägungen inspiriert: Als gläubige Menschen, die Grenzen und Wunden der Vergangenheit selbst schmerzlich durcherlebt hatten, die sie aber in weltoffener katholischer Prägung und Netzwerkarbeit zu heilen suchten. Und: Die zugleich Europa sowohl in seiner ganzen kulturellen und religiösen Vielfalt sahen als auch in den tief gründenden Gemeinsamkeiten, unterstrich Posselt, „wahren und echten Patrioten“, wie er mit Blick auf den von Justus Möser gebrauchten Wortsinn unterstrich: „Gemeint sind diejenigen, die sich für das Gemeinwohl einsetzen - aus Liebe und Verantwortung für das Gemeinwesen, für die Familie, für die Gemeinde, für den Bund, die Region. Menschen, die dies tun, auch wenn es ihnen keine persönlichen Vorteile bringt“, stellte Posselt klar. Gerade die Pandemie habe gezeigt: Eine Gemeinde könne ohne eine solche Haltung nicht existieren, nur durch sie könne sich ein Gemeinwesen immer wieder erneuern.
Gefahren für das Projekt Europa
In diesem Sinne seien nicht die erklärten Gegner des europäischen Projekts die größten Gefährder der europäischen Einigung. Die größte Gefahr gehe vielmehr von denen aus, die Europa im Munde führten, aber ganz eigene Interessen verfolgten, so Posselt mit Blick auf diejenigen, die sich persönlich bereicherten oder sich als selbsterklärte Verteidiger des Kontinents aufführten. Insofern sei immer wieder daran zu erinnern, dass es der Gründergeneration um die große Frage von Krieg und Frieden gegangen sei – damit um Themen, die heute viel zu sehr für allzu selbstverständlich gehalten würden. Immer wieder müsse dies in der öffentlichen Debatte, aber auch in der Bildungsarbeit in Schulen deutlich gemacht werden – zumal in einer Zeit, die von massiven Verschiebungen der Gleichgewichte in den asiatischen Raum gekennzeichnet sei: „Wir sind 7 Prozent der Weltbevölkerung – mit sinkender Tendenz. Doch wenn wir uns zersplittern, dann wird uns keiner mehr ernst nehmen.“ Europa müsse als „Heimat der Heimaten“ ein „schützendes Dach der Nationen im sauren Regen der Globalisierung“ sein, so Posselts Forderung.
Gefahr der Destabilisierung
Neben geopolitischen Aspekten aber sei auch der wachsame Blick auf die zunehmenden Verwerfungen in den europäischen Gesellschaften selbst anzeigt: Deutlich warnte Posselt vor neuen Ideologen und Einflussnahme von außen. „Man will in vielen Staaten Europa zersprengen“, erklärte er und verwies er auf russische Finanzströme an nationalistische Gruppierungen in vielen Ländern des Kontinents, aber auch auf die engen Kontakte der deutschen AfD, spanischer, italienischer und französischer Parteien zur Putin-Partei. Hier sei jedes Mittel der Destabilisierung zur Entzweiung recht. Auch aus seiner Enttäuschung zu manchen Entwicklungen in mittel- und osteuropäischen Ländern in Fragen der Rechtsstaatsprinzipien machte Posselt keinen Hehl, doch setze er „auf die Vernunft und demokratische Substanz.“ Seit der massiven innenpolitischen Instrumentalisierung des Flucht- und Migrationsthemas aber müsse klar sein: „Europa darf sich nicht abschotten – das ist nicht Europa. Wir wären ein Einheitsbrei, wie ihn unsere Vorfahren gegessen haben.“ Immer schon habe Europa die vielfältigsten Einflüsse aufgenommen. Insofern halte er schlicht nichts von „all den Untergangspropheten, die jetzt von Armageddon reden“, von Apokalyptikern und Demagogen: „Ideologen brauchen so etwas. Sonst niemand.“
Agape statt Armageddon
Dagegen teilten inzwischen viele Menschen ganz andere Erfahrungen: Hier gebe es längst vielfache positive Erfahrungen eines immer weiter zusammenwachsenden Kontinents, des reichen Schatzes des kulturellen Erbes und der Vielfältigkeit europäischer Identität, aber auch das grenzenlose Erleben der zahlreichen Möglichkeiten zur Begegnung. Hier müsse angesetzt werden, so Posselt. Seine Forderung: „Europa muss gelebt, erlebt und gefeiert werden. Tragen wir Europa in unseren Alltag – es ist der Schweiß aller wert. Denn Europa ist das Kostbarste, was die Politik der Vorzeit und hinterlassen hat. Agape, Gemeinschaft, statt Armageddon also“, forderte er und plädierte leidenschaftlich gegen eine „Europapolitik der Endzeitstimmung“.
Online-Debatte zur Zukunft Europas
Gerne stellt sich Bernd Posselt in der folgenden angeregten Debatte auch den zahlreichen Fragen zu jüngsten Entwicklungen und zur Zukunft Europas. „Die Briten sind raus - endlich“, meinte er lakonisch zur Rolle Großbritanniens in den letzten Jahrzehnten und zum Brexit, warnte aber vor den Folgen an der europäischen Innengrenze zu Irland und zu Frankreich. Eine klare Absage erteilte er dem Projekt „NordStream 2“, gegen das er mit Blick auf die Folgen für die osteuropäischen Staaten selbst früh opponierte hatte. Auch sei endlich eine Klärung notwendig, wer mit welcher Stimme für eine gemeinsame Sicherheits- und Außenpolitik spreche: Hier sei eine Reform dringend notwendig, betonte Posselt auf die Frage nach dem „Sofa-Gate“ beim Besuch der EU-Spitze bei Erdogan und plädierte für eine sofortige Beendigung des Kandidatenstatus: „Die Zeit, in der man sich mit der Frage nach einer wie auch immer gearteten Partnerschaft der EU mit der Türkei beschäftigt, ist vorbei.“
Rolle der Christen für Europa
Mit dem Inkrafttreten der Montanunion vor 70 Jahre sei der „Teufelskreis der Gewalt und der Kriege durchbrochen“ worden, erklärte Posselt. Sehr positiv sei seitdem die Rolle der Kirchen und ihrer vielfältigen Gremien in Europa, auch hätten die vergangenen Pontifikate keinen Zweifel an der großen Aufmerksamkeit für das Thema in Rom gelassen. Oft sei Europa darum sogar als „klerikales Projekt“ geschmäht worden: „Doch wir sind als Christen Sauerteig“. Im Blick auf die Rolle von Bbr. Robert Schuman werde dies exemplarisch deutlich. Es gebe keine demokratische Strömung, die sich nicht auf sein Erbe, auf den „Vater Europas“ berufe – hier gebe es einen breiten Konsens.
Ausdrücklich freute sich Posselt über die jüngst veröffentlichte Ankündigung, dass Bbr. Robert Schuman möglicherweise noch vor dem Sommer seliggesprochen werde: „Dies könnte einen unglaublichen Impuls für den europäischen Parlamentarismus und den Versöhnungsgedanken bedeuten“, sagte er. „Robert Schuman, der nur fünf Jahre nach dem schlimmsten Kriegserfahrung der europäischen Völker die Initiative ergriff, ist schlicht der Heilige Europas und des Antipopularismus schlechthin“, erklärte Posselt mit Hinweis auf den völlig unprätentiösen Politikstil des Ausnahmepolitikers, der weder nach Umfragewerten gehandelt habe noch sich schnell ändernden Popularitätswerten verpflichtet gewesen sei. Ihn beeindrucke bis heute Schumans „unglaublicher Mut, sein tiefer und offen gelebter Glaube“. Er sei die „ideale Persönlichkeit, sich zu orientieren, ein wirklicher Held und Heiliger im grauen Straßenanzug.“
„Europas Sprache ist der Dialog“
Die Frage nach den Perspektiven für den Kontinent müsse sich dieser Anfänge immer erinnern, dürfe aber nicht rückwärtsgewandt bleiben. Die Gegenwart heute biete zahlreiche Herausforderungen, Auseinandersetzungen müssten auch streitig geführt werden. Rechtliche Fragen dürften dabei nicht – wie häufig zu sehen - mit ideologischen Themen vermengt werden, doch „Europas Sprache ist der Dialog“. Leidenschaft sei weiter gefragt – auch für den deutschen Beitrag. Gerade die deutsche Politik habe in den letzten Jahrzehnten ein großes Vertrauenspotenzial aufgebaut, so Posselt: „Ein großer Pluspunkt für Europa“, der durch die anstehenden Bundestagswahlen nicht leichtfertig verspielt werden dürfe. Die Zukunft bleibe eine dauernde Aufgabe, erklärte Bernd Posselt und dankte für „einen wunderbaren Abend.“
Aus den Reihen der Teilnehmer aller Altersgruppen, die sich aus vielen Orten und auch aus Frankreich zugeschaltet hatten, gab es viel Lob für das ungewohnte Format. „Ein klares Plädoyer für das Friedensprojekt und die Einigkeit in Europa“, freute sich Ruhranen-Senior Andreas Krüger über die überaus anregende Begegnung mit dem Paneuropa-Präsidenten.
C. Beckmann