ESSEN. „Europa ist nichts für Sonntagreden. Es beweist sich im Alltag“, erklärte Bernd Posselt, Präsident der Paneuropa-Union, bei unserem letzten Ruhr-Europatag 2021. „Und man kann es nicht ohne Liebe machen!“, schrieb der langjährige EP-Abgeordnete den Studenten der Unitas Ruhrania beim jährlichen Gedenken an Bbr. Robert Schuman am Sonntag, 9. Mai 2021, ins Stammbuch. Jetzt das: Europa ist gefordert wie kaum je zuvor. Wir schreiben Tag 2 eines Krieges auf dem Kontinent, im größten Land Europas – ein Krieg mit Ansage, vorbereitet, kalt vom Zaun gebrochen durch den russischen Präsident Putin und in vollem Gange. Schluss mit Sonntagsreden.
Belogen und betrogen
Die ukrainische Hauptstadt Kiew liegt 1.600 Kilometer Luftlinie von Essen entfernt. Für 50 Euro mit dem Flixbus kann man hin. Jetzt aber besser nicht: Die 3-Millionen-Stadt liegt unter Beschuss. Panzerkolonnen auf den Autobahnen, „chirurgische“ Luftangriffe auf Flughäfen und Infrastruktur. Ein Angriff von vier Fronten, zu Land, zu Wasser und aus der Luft. Hektische Verhandlungswochen liegen den Vertretern Europas und der USA. Besonders für die aus Europa mit der bitteren Erkenntnis: Sie sind wie alle nicht nur lächelnd platt belogen worden, sondern spurlos abgetropft. Sie spielten für Aggressor Putin auch keine Rolle. „Wir sind in der Wirklichkeit aufgewacht“, „Wir waren zu sorglos, haben Fehler gemacht“, „Wir haben zu lange auf die Friedensdividende der letzten Jahre gesetzt“ – so oder ähnlich lauteten die kleinlauten Bekenntnisse dieser Tage. Und angesichts der drohenden Folgen ist plötzlich viel zu tun: „Wir haben unsere Sicherheit vernachlässigt“ und „Wir müssen Europa stärken“ heißt es. Und fast beschwörend: „Wir sind so zusammengerückt wie lange nicht mehr“. Wirklich?
Keine Zeitverschwendung
Es war schon nicht albern, jahrzehntelang die Nationalhymne zu singen und darum als „Nationalist“ oder gar schlimmeres zu gelten – Studentenvereinigungen wie die Unitas, die das bei ihren Feiern taten, haben diese Erfahrung gemacht: Als Deutschland vor drei Jahrzehnten wiedervereinigt wurde, setzte ein zusammenbrechendes System weltanschaulich organisierter Unfreiheit seine Unterschrift drunter, ließ sich teuer bezahlen und zog ab. Und genauso war es nicht falsch, mit dem „Est europa nunc unita“ die Europahymne in die Liederbücher zu drucken und darum ebenfalls als seltsam zu gelten. Wer aber „semper regant in Europa fides et iustitia et libertas populorum in maiore patria“ singt, muss sich auch intensiv mit den Hintergründen, der Geschichte und der Komplexität unserer gemeinsamen Kultur auf dem Kontinent beschäftigen. Wir haben es getan – immer wieder - und es war alles andere als Zeitverschwendung. Die Ereignisse dieser Tage zeigen es. Dass es eben nicht falsch sein kann, auch auf ein Pferd zu setzen, dass für viele gar nicht im Rennen ist. Einen vermeintlich alten Gaul für viele, einen, der seine besten Zeiten hinter sich hat. Aber so banal funktioniert Geschichte nicht. Schon gar nicht, wenn man sich nicht mit ihr wirklich auseinandersetzt.
Vorbilder wiederentdecken
„Wir haben ein großartiges Erbe, Vorbilder, die wir vergessen haben“, erklärte Heribert Prantl am Samstagmorgen, 26. Februar 2022, in der Radioserie „Wenn ich an Europa denke“. Und zählte sie alle auf, die Namen begeisterter Europäer, die nach dem Krieg beherzt die Geschichte in neue Bahnen lenkten: Weg von der Konfrontation, vom ewigen Gegeneinander, hin zu Kooperation in einem Friedensraum, der bis heute seinesgleichen sucht. Mittendrin: Robert Schuman, unser Bundesbruder und erster Präsident des Europäischen Parlaments, der „Vater Europas“. Kein von seltsamen Visionen getriebener Betbruder, wie ihn Zeitgenossen schmähten, vor allem die moskauhörigen kommunistischen Abgeordneten der französischen Nationalversammlung. Sondern ein knallharter Friedenspolitiker, der um all die schwierigen Schritte auf den nächsten Metern und Kilometern nur zu gut wusste. „Nicht in einem Schlage“ werde Europa entstehen – das war ihm mit seiner berühmten Rede zur Gründung der Montanunion 1950 klar. Was ihr alles folgte, wissen wir. Und noch im Februar haben wir hier an den 1992 geschlossenen Vertrag von Maastricht erinnert. Zahlreiche weitere Verträge begleiteten und festigten diese Entwicklung, bindende Verabredungen erwachsener, selbständiger Staaten, die sich in der Europäische Union gemeinsam auf den schwierigen Weg in die Weltgeschichte machten.
Weg der Geschwisterlichkeit
Sie taten das nicht nur mit berechnendem Kalkül der Suche nach ihren Vorteilen, sondern aus einer fundamentalen Erkenntnis. Und darum mit einer veränderten Haltung: Sie folgten einem Modell, das Papst Franziskus als „Weg der Geschwisterlichkeit“ bezeichnete, „der zweifellos die Gründerväter des modernen Europa, angefangen bei Robert Schuman selbst, inspiriert und beseelt hat.“ Es könne kein authentisches Europa ohne die Grundpfeiler geben, auf die es sich historisch gründete, erklärte Franziskus und entwarf für die Zukunft die Vision eines „Europa der Solidarität", wie er 2021 sagte:
„Ich träume also von einem menschenfreundlichen Europa; von einem Kontinent, in dem die Würde eines jeden respektiert wird, in dem der Mensch an sich einen Wert darstellt und nicht zu einem Gegenstand wirtschaftlichen Kalküls oder zu einer Ware wird; von einem Kontinent, der das Leben zu jedem Zeitpunkt schützt, von dem Moment an, in dem es unsichtbar im Mutterleib entsteht, bis zu seinem natürlichen Ende, denn kein Mensch ist Herr über das Leben, weder über das eigene noch das anderer; von einem Kontinent, der die Arbeit als vorzügliches Mittel sowohl für das persönliche Wachstum als auch für den Aufbau des Gemeinwohls fördert und Beschäftigungsmöglichkeiten vor allem für die Jüngeren schafft. Menschenfreundlich zu sein, bedeutet, Bildung und kulturelle Entwicklung zu fördern.“
Sein zweiter Traum sei die Einheit. Er träume aber auch, so das dritte Element, von Europa als „Familie und Gemeinschaft“, als Ort, der die besonderen Eigenschaften jedes Menschen und jedes Volkes zu würdigen wisse, „ohne zu vergessen, dass sie eine gemeinsame Verantwortung verbindet“.
Selbstverpflichtung für den Kontinent der Freiheit
Genau dazu haben wir uns in der Unitas – wieder einmal - noch im letzten Jahr verpflichtet. Bei der 144. Unitas-Generalversammlung, die unter dem Motto „Freiheit heißt Verantwortung“ in Essen tagte. Im 70. Jahr nach der Gründung der Montan-Union bekannten wir uns in Verpflichtung gegenüber dem politischen Erbe von Robert Schuman zu unserer Verantwortung, Europa als Kontinent der Freiheit aktiv mitzugestalten. „In der Krise beweist sich der Charakter. Das gilt nicht nur für Menschen, es gilt auch für Zivilisationen“, hieß es dort. Dies gelte nicht nur in der Bewährungsprobe der Pandemie, sondern in politischer, wirtschaftlicher, vor allem aber auch in ethischer und religiöser Hinsicht. „Wir sind europäische Bürger!“, so der Appell: „Der Unitas-Verband versteht dieses Bekenntnis als Selbstverpflichtung, aber auch als Appell an alle Glaubensgeschwister, ihrer Verantwortung als Christen für den Kontinent der Freiheit nachzukommen.“
Krieg in Europa
Was wird nun aus diesem frommen Wunsch? Wieder eine Sonntagsrede? Wir haben Krieg in Europa. Eines der größten Länder auf dem Kontinent wurde schamlos überfallen. Es war ein nur dürftig mit abenteuerlichen Vorwänden und einer elenden Propaganda garnierter brutaler Angriff auf einen Staat, der sich diesem Weg anschließen wollte. Eben nicht nur einem wirtschaftlich außerordentlich erfolgreichen Modell, dessen Vorzüge man mitnimmt, solange es funktioniert. Sondern einer zugleich ganz visionären und ganz realen Freiheitsordnung, von der man in vielen Ländern eben nur träumen kann. Für die sie auch auf dem Kiewer Maidan das Sternenbanner hissten und sich dafür prügeln und töten ließen. Und wieder halten sie in diesen Tagen für diesen Traum ihren Kopf hin, tragen die größte Last in diesem mörderischen Chaos.
„Europa ist das Kostbarste, was die Politik der Vorzeit und hinterlassen hat“ - das schrieb uns Bernd Posselt im vergangenen Jahr ins Stammbuch, plädierte leidenschaftlich gegen eine „Europapolitik der Endzeitstimmung“ und forderte: „Europa muss gelebt, erlebt und gefeiert werden. Tragen wir Europa in unseren Alltag – es ist der Schweiß aller wert.“ Ob sich der in Russland selbst langsam wachsende Protest gegen den Krieg durchsetzen kann, steht in den Sternen. Mag sein, dass sie auch ahnen, was für Jahre und länger verspielt werden kann, wenn man an das Europa denkt, das nach Papst Johannes Paul II. nur mit zwei Lungenflügeln atmen kann. Aber auch uns wird es mehr als Schweiß kosten, diese und alle folgenden Monate und Jahre mitzutragen. Völker Europas, stemmt euch gegen den Verrat an unserer Geschichte, an den Träumen einer Generation, die sehr wohl wusste, was Krieg bedeutet. Robert Schuman, bitte für uns alle!
cb
Quellen / Artikel:
21. Juni 2021 - Bbr. Robert Schuman: „venerabilis Dei servus“
16. Juni 2021 - Perspektiven: Russland heute und morgen
05. Juni 2021 - „Europa verpflichtet“: Unitas verabschiedet Essener Resolution
28. Mai 2021 - Ruhr-Europatag 2021: Leidenschaftlich für Europa